Ein Ereignis, das erzählt werden muss

"Das Ereignis" bedeutet auf Polnisch "zdarzenie". Unter der Regie von Laura Linnenbaum am Berliner Ensemble erzählt das Stück die Geschichte eines Ereignisses, das den gewohnten Ablauf im Leben der 23-jährigen Annie drastisch unterbricht. Es hat ihre Welt auf den Kopf gestellt. Es hat sie in gewisser Weise für immer verändert und ihrer Jugend ein Ende gesetzt.

Es hat ihre Psyche ebenso beeinflusst wie ihren Körper. Sie hat es fast nicht überlebt. Die Schwere dieses Ereignisses wird in dem Stück durch die über die Bühne verstreute Erde zum Ausdruck gebracht. Erde und Staub bedecken und verschmutzen alles, auch die Kleider und Körper der Schauspielerinnen. Die Bühne wird erst ganz am Ende der Aufführung, wenn alles vorbei ist, gesäubert.

Das gleichnamige Ereignis ist die ungewollte Schwangerschaft und illegale Abtreibung einer jungen Studentin im Frankreich der 1960er Jahre, wo Abtreibungen mit Gefängnis bestraft sind. Das Stück basiert auf dem autobiografischen Roman "L'Évenement" ["Das Ereignis"] von Annie Ernaux aus dem Jahr 2000. Vor einigen Monaten sagte Ernaux in ihrer Nobelpreisvorlesung, dass sie ihre Geschichte aufschreibt, um die Situationen und Ereignisse, die sie erlebt hat, entschlüsseln zu kön nen. Die Literatur ermöglicht es ihr, die Bedeutungen ihrer eigenen Erfahrungen anderen zu vermit teln.

Für die Protagonistin des Stücks ist es ein Bedürfnis, aber auch eine Pflicht, die Geschichte ihrer Abtreibung zu erzählen. Beschreiben heißt, das Geschehen zu verstehen und ihm einen Sinn zu geben. Als Annie sich zum ersten Mal an uns wendet, spüren wir, dass es ihr immer noch Schmerzen bereitet, darüber zu sprechen, obwohl viele Jahre seit dem Ereignis vergangen sind. Und doch muss sie sprechen. Linnenbaums Stück ist ein Erzähltheater, obwohl es nicht auf einem Monolog basiert. Es ist ein Dialog zwischen Annie und sich selbst. Drei großartige Schauspielerin nen, Nina Bruns, Pauline Knof und Kathrin Wehlisch, spielen die Heldin in drei verschiedenen Lebensabschnitten. Die jüngste, 23-jährige Annie (Bruns) ist diejenige, der alles widerfahren ist. Für die etwas ältere Frau (Knof), die inzwischen erwachsen ist, sind die Erinnerungen noch frisch. Während der Aufführung ist sie diejenige, die die Ereignisse am häufigsten genau beschreibt. Die älteste Annie (Wehlisch) ist diejenige, die versucht, uns heute ihre Vergangenheit zu erzählen. "Das Ereignis" ist also nicht nur ein Stück über die Ereignisse von 1963/64, sondern auch darüber, wie Annie sich im Laufe der Jahre daran messt, sich erinnert und sie nacherzählt. Jede der drei Ebenen des Stücks hat eine Protagonistin und ist gleich wichtig. Die drei Annies, die die ganze Zeit zusam men auf der Bühne stehen, sprechen abwechselnd und hören einander zu. Sie sind in keiner Weise voneinander getrennt, sondern bleiben in engem Kontakt zueinander. Ich denke, ihre Beziehung ist das schönste Element dieses Stücks. Annie ist eine mit sich selbst versöhnte Heldin. Sie lächelt ihre jüngeren Ichs an. Und sie unterstützen sie. Die Frauen, deren Geschichten wir hören, sind sowohl zerbrechlich als auch unglaublich stark. Manchmal gelingt es ihnen, das Gewicht ihrer Erfahrungen durch gemeinsames Lachen zu überwinden. Die Autorinnen des Stücks haben nicht versucht, die Schauspielerinnen einander mit Gewalt ähnlich zu machen. Die drei Annies sehen sehr unter schiedlich aus, jede hat ihre eigene Art zu sprechen und zu gestikulieren. Und doch sehen wir sie als eine zusammenhängende Figur. Das ist ein Beweis dafür, was für ein gutes Stück "Das Ereignis" ist.

Das Theater Linnenbaum versucht nicht, die Vergangenheit realistisch darzustellen. In dieser Hin sicht ist es eher minimalistisch. Als 23-jährige Annie spielt Bruns die fraglichen Szenen nur selten wirklich. Dennoch werden uns alle Ereignisse vor Augen geführt. Das Stück basiert auf Worten, die durch symbolische Bilder illustriert werden. Ernaux' Sprache, die von Sonja Finck ins Deutsche übersetzt wurde, ist unverblümt. Er versucht nicht, etwas wegzulassen. Sogar die Beschreibung der Abtreibung selbst ist detailliert und wörtlich. Es ist schwer zuzuhören, aber die Worte zu finden, um über Abtreibung zu sprechen, die oft keinen Platz in der Sprache hat, ist eine wichtige Leistung von Ernaux. Abtreibung ist immer noch ein Thema, das oft totgeschwiegen und versteckt wird, aber dennoch kollektiv ist. Wir müssen lernen, darüber zu sprechen.

Die Schauspielkunst und das Bühnenbild, das von Daniel Roskamp entworfen wurde, verleihen dem Text Kraft. Einige Szenen bleiben lange im Gedächtnis. Wenn die Erzähler erzählen, wie die junge Annie darauf wartet, dass ihre Periode ausbleibt und sie merkt, dass sie schwanger ist, zieht sie ein weiteres Paar Unterhosen aus und hängt sie an eine Schnur, die quer über die Bühne gespan nt ist. Als ihr Entsetzen und ihre Scham über die Gewissheit, schwanger zu sein, zur Sprache kom men, isst sie auf einmal einen großen Bund Petersilie, den sie nicht herunterschlucken kann. Als die Geschichte den Punkt erreicht, an dem Annie sicher weiß, dass sie abtreiben wird, schütten alle drei Schauspielerinnen wütend Erde aus schwarzen Säcke. Diese Szene wird von einem Stroboskopef fekt und lauter Musik begleitet. Sie jagt dem Publikum einen Schauer über den Rücken. Die Erde bleibt fast bis zum Ende der Aufführung auf der Bühne. Die Heldinnen waten hinein und legen sich hinein, schütten sie unter ihre Kleider und bilden dicke Bäuche. Während eine Annie den Verlauf der Abtreibung beschreibt, verteilt die Jüngste die Erde unter Schmerzen auf ihrem Körper und schüttet sie unter ihre Unterwäsche.

Die Geschichte von Annie ist voller Schmerz. Sie erzählt von der Scham und der Angst, die mit ein er ungewollten Schwangerschaft verbunden sind. Für die 23-jährige Studentin würde die Geburt eines Kindes bedeuten, dass sie alle ihre Lebenspläne über den Haufen werfen müsste. Kein Wun der also, dass sie entschlossen ist, einen Weg zu finden, ihre Schwangerschaft abzubrechen. Da sie niemanden hat, der ihr hilft, versucht sie, selbst eine Abtreibung vorzunehmen. Sich selbst Schmerzen zuzufügen, ist nicht so schwer, wie die Chance auf eine Karriere zu verlieren, findet die Protagonistin. Diese Methode schlägt jedoch fehl. Sie ist völlig allein, getrennt von all ihren Freun den, deren Leben normal weiterläuft. Als es ihr schließlich gelingt, in ihrer Pariser Wohnung eine verängstigte Frau zu finden, die Abtreibungen vornimmt, ist sie bereits im vierten Schwanger schaftsmonat. Eranux beschreibt die Wirkung des Eingriffs und sagt, dass sie gleichzeitig ein Leben und einen Tod zur Welt gebracht hat. Erleichterung mischt sich mit Schmerz. Infolge ihrer Verlet zungen geht es Annie so schlecht, dass sie sofort ins Krankenhaus gebracht werden muss. Die Ärzte, die ihr das Leben retten, zeigen ihr gegenüber keinerlei Respekt. Obwohl sie kaum noch am Leben ist, lassen sie sie schwören, so etwas nie wieder zu tun.

Anna schafft es, sich zu erholen. Sie erlangt ihren Körper zurück. Sie kann ihr Studium und ein normales Leben wieder aufnehmen. Alle drei Schauspielerinnen fegen die Bühne, so dass nur noch Spuren von Erde auf ihr zu sehen sind. Die meiste Zeit des Stücks waren sie nur in Unterwäsche bekleidet, jetzt sind sie wieder angezogen. Annie hat es geschafft. Sie hat überlebt und ihre Geschichte erzählt.

Aber in dieser Geschichte geht es nicht nur um sie. Dieses Ereignis war kein Einzelfall. Wie Lin nenbaum betont, nutzt Eranux ihre eigene Biografie, um von einer universellen Erfahrung zu erzählen. In Ländern wie Polen, in denen Abtreibung als Straftat gilt, sind Tausende von Frauen gezwungen, ihre Schwangerschaft illegal abzutreiben. Annie überlebte eine schlecht durchgeführte Abtreibung, aber viele andere Frauen nicht. Es ist seit langem bekannt, dass ein Verbot der Abtrei bung die Zahl der durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche nicht verringert, sondern sie sogar noch gefährlicher macht. Die Geschichte, die in "Das Ereignis" erzählt wird, ist leider hochaktuell, vor allem im polnischen Kontext. Das Stück, das am Berliner Ensemble aufgeführt wird, ist künst lerisch großartig und hat gleichzeitig eine klare politische Botschaft. Es wäre gut, wenn diese Botschaft auch in Polen ankommen würde.
__
Informationen zum Stück:
Regie: Laura Linnenbaum
Dramaturgie: Amely Joana Haag
Autorin: Annie Ernaux
Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsch: Sonja Finck
Bühne: Daniel Roskamp
Kostüme: Michaela Kratzer
Schauspielerinnen: Nina Bruns, Pauline Knof, Kathrin Wehlisch
Premiere war am 18.02.2023, Berliner Ensemble, Berlin
__

Datum des Theaterstücks: 19.02.2023

Wersja polska (Polnische Fassung)



Marianna Wicha
Dziennik Teatralny Berlin
2 marca 2023
Portrety
Laura Linnenbaum